Hi! Gemütlich? Cool. Heute geht es um Science Fiction als Werkzeug und schwimmende Städte. Der Wallnussbaum vor meinem Fenster sieht nicht unbedingt super gesund aus. Das hier ist der 100. WEEKLY PLANET. Finden wir raus, was das bedeutet.
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Mein Name ist Lele Lucas. Ich schreibe diesen Newsletter als Teil von DRAGONS EAT EVERYTHING, einem Netzwerk für Nerd Feuilleton und Feminismus. Bisher war der WP ein Versuch eine Art Wochenzeitung bereitzustellen. In Zukunft wird der WP alle zwei Wochen erscheinen. Das entlastet mich gehörig und erlaubt mir (hoffentlich) etwas mehr Zeit in die einzelnen Ausgaben zu stecken.
Los geht’s!
DRAGONS EAT EVERYTHING UPDATE
- THRONES & DRAGONS unser heimisches Game of Thrones Format ist wieder da. Clemens und Helena werden jeden Samstag einen Podcast liefern, der auf die letzte Folge der Serie der Stunde zurückblickt.
- Im letzten NINJA PIRATE BROADCAST haben Pauala und Maurice sowohl Star Trek: Voyager als auch Avengers: Endgame besprochen.
- ALL YOU CAN EAT #154: Interview mit Fat White Family als Podcast + Playlist
- ALL YOU CAN EAT #155 – Playlist
- NERD FEUILLETON #26 – Gotta Go Fast: Über den Sonic Film, Batman Ninja und ACHTUNG! Spoiler für Avengers: Endgame
SFF is serious Business
Es ist unglaublich einfach, als Person im Internet aus dem Bauch heraus wütend zu werden und Urteile zu fällen. Ich arbeite in einem Buchladen und urteile ständig über Bücher, die ich nicht gelesen habe. Sei es, weil die Äußerungen, die die Autor*innen woanders gemacht haben, beschissen sind oder weil mir schon beim Klappentext ganz anders wird. Manchmal lese ich auch ein Buch über ein anderes Buch, um es ordentlich abschätzig anschauen zu können. So getan, um Hillbilly Elegy von J.D. Vance nicht mal mehr mit dem Hintern anschauen zu müssen. Wie auch immer. Vor ein oder zwei Wochen hat Ian McEwan (Nutshell, On Chesil Beach, Atonement) in einem Interview über sein neues Buch Machines Like Me, Folgendes gesagt.
McEwan has an abiding faith that novels are the best place to examine such ethical dilemmas, though he has little time for conventional science fiction. “There could be an opening of a mental space for novelists to explore this future, not in terms of travelling at 10 times the speed of light in anti-gravity boots, but in actually looking at the human dilemmas of being close up to something that you know to be artificial but which thinks like you. If a machine seems like a human or you can’t tell the difference, then you’d jolly well better start thinking about whether it has responsibilities and rights and all the rest.” (via The Guardian)
Darauf hin hat sich in mir irgendetwas angegriffen gefühlt. Was fällt dem Mann ein zu behaupten, dass SFF nicht schon seit Anfang an genau das machen würde, was er beschreibt? Ich habe mich also im Stile von Tante Dursely aufgeplustert und gewettert. Und dann habe ich über einen Umweg eine Kritik von McEwans Buch lesen dürfen.
I’m sure I’m not alone in finding it ironic that a writer who purportedly has no interest in science fiction is able to come up with such a neat and tidy description of what science fiction is and sets out to do. But if it’s dull and annoying to hear these misconceptions about SF trotted out yet again, it is equally tedious to witness another windy bout of performative outrage from the science fiction community, most especially when it is obvious that few, if any of those doing the yelling have actually read the text they’re so pissed off about. (via Nina Allan)
Hui, wie habe ich mich ertappt gefühlt. Was ich an dem Diskurs am interessantesten finde ich der wiederholte Bezug auf einen Essay von Ursula Le Guin in dem sie SF als ein Werkzeug beschreibt, dass Autor*innen benutzen können wie sie wollen. Manche nutzen es gut, sicher und mit großartigem Ergebnis, andere kaufen die billige Kopie und wundern sich warum das Haus nicht hält. Sowohl die Besprechung von Nina Allan auch die von vox.com kommen zu dem Schluss, dass McEwan vielleicht schöne Sätze schreiben kann, aber sich nicht erfolgreich mit seinem Werkzeug auseinandersetzt. Und das sorgt dann scheinbar für eine eher langweilige Geschichte. Von den sozialen Implikationen der Ideen von McEwan ganz abgesehen.
Habe ich jetzt also Lust das Buch zu lesen oder werde ich es anderen Menschen empfehlen? Ich denke nicht. Bin ich froh darüber, dass ich weiter drüber nachdenken und reflektieren konnte? Auf jeden Fall. Wer einen Hammer schwingt, sollte auch dazu stehen. Mit ihm Nägel in die Wand zu hauen und zu behaupten es wäre eine delikate Feder und kein Hammer ist Schwachsinn. Ich glaube es ist heutzutage okay Science Fiction zu schreiben und wünsche mir gleichermaßen, dass die Tür offen bleibt. Hier ist eine Menge Platz.
Blackfish City von Sam J. Miller
Blackfish City lässt sich relativ leicht verkaufen. „Es geht um eine Frau, die auf einem Orca, mit einem Eisbären im Schlepptau, in eine auf dem Wasser schwimmende Stadt kommt.“ Das reicht meist. Jetzt wo ich es gelesen habe, weiß ich, dass das Buch mehr als das ist. Logisch, irgendwo, aber Geduld. Ja, es gibt eine Frau, einen Orca und einen Eisbären und vor einiger Zeit wurden „Klimakriege“ geführt. Die Frau kommt auf einem Floß, der Eisbär hat Käfige um sein Maul und seine Tatzen und der Orca schwimmt nebenher. Bis wir die Frau tatsächlich treffen und später kennenlernen, vergeht etwas Zeit.
Das Buch beginnt mit Fill, einem jungen, reichen und relativ ignoranten jungem Mann. Er stellt fest, dass er sich eine sexuell übertragbare Krankheit eingefangen hat. Die sogenannten „Breaks“ zeigen sich in Visionen und Vignetten von Leben, die die Betroffenen nicht erlebt haben. Er ist sich unsicher, wie er damit umgehen soll und findet Zuflucht in einem Radioprogramm namens „City without a Map“. Ankit arbeitet für eine lokale Politikerin. Sie ist gut in ihrem Job. Egal wie wenig Macht die Politikerin in einer von Aktionären und künstlicher Intelligenz geleiteten Stadt auch haben mag, Ankit versucht Gutes zu tun und übertreibt es ein wenig. Kaev hingegen hat sich beinahe abgefunden mit seinem Leben. Er ist ein Schaukämpfer, der dafür bezahlt wird zu verlieren. Seine geistigen Kapazitäten nehmen aus rätselhaften Gründen kontinuierlich ab. Soq ist die letzte im Bunde, sie sind Lieferantin* oder Botin* und es stehen Jobs für eine führende Kriminelle in Aussicht. Die Vier werden aufeinandertreffen und ihr Leben gegenseitig stark beeinflussen. Die Frau mit Orca und Eisbär ist Dreh- und Angelpunkt.
Blackfish City ist Anfangs etwas träge, nimmt dann Fahrt auf und kommt sicher zur Landung. Die Stadt, die auf dem Meer schwimmt, in der Menschen nicht zusammengeschlagen, sondern ins Wasser geworfen werden, ist lebendig und durchaus eine glaubhafte Zukunftsvision. Miller zeichnet mit Hilfe des Radioprogramms „City Without a Map“ eine Gesellschaft, in der der Kapitalismus immer noch regiert und seine Macht in großen Teilen im Verhältnis von Mieterinnen und Vermieterinnen zeigt. Großer Konfliktpunkt sind Wohnungen, die absichtlich leer gehalten werden und Aufenthalt auf der Insel ist nur in den von den Funktionären kontrollierten Wohnungsanlagen möglich. Einst wurden Menschen mit Hilfe von Nanomaschinen mit Tieren verbunden und danach verfolgt und größtenteils ausgelöscht. Kriege haben die Kontinente beinahe unbewohnbar gemacht und die tituläre Stadt ist nicht die erste ihrer Art. Mir kam die Vermittlung des Hintergrundes nie nervig oder langweilig vor, dafür waren die Ideen zu cool. Ich könnte jedoch verstehen, wenn sich Leser*innen an der Menge an Informationen stören.
Als solide, dystopische und fest verankerte Science Fiction möchte ich Blackfish City auf jeden Fall empfehlen. Manchmal erschienen mir die Handlungen der Charaktere etwas ruppig, ich glaube ich hätte sie mit etwas mehr Kennenlernzeit besser nachvollziehen können. Die Verbindungen die sich am Ende ergeben waren dann doch sehr praktisch. Ich bin mir unsicher, da ich das Buch wegen der fantastischen Ideen empfehlen möchte. Die Charaktere sind es weniger, was das Buch so lesenswert macht.
Für mehr Action in futuristischen Städten auf dem Wasser fällt mir noch Company Town von Madeline Ashby ein und für einen Einstieg in die Beziehung zwischen Vermieterinnen und Mieterinnen möchte ich diese Folge des Ashes Ashes Podcast empfehlen. Zusammen ergeben Buch und Podcast einen sehr guten Gedankencocktail.
Ich habe ein Leseexemplar von Blackfish City gelesen. Es gibt das Buch inzwischen als Paperback und jeder gute Buchladen sollte es mindestens bestellen können.
Lesestoff: SFF is Serious Business
- Warum „Dark Phoenix“, der kommende X-Men Film, nicht gut für Jean Grey ist. So schade. Zeit die Refrigerator Monologues wieder auszupacken.
- Ein Essay von Ursula Le Guin über „serious literature„
- Andrew Liptak über Margaret Atwoot und ihre Weigerung ihre Bücher als SFF zu beschreiben.
- Ein Interview mit Cory Doctorow über seine aktuelle Sammlung von Kurzgeschichten „Radicalized“
- Eine Übersicht über kürzlich erschienene Science Fiction im Guardian
- Ein Porträt von Alice Sheldon, die als James Tiptree Jr. Grundlagen für eine Menge Literatur gelegt hat.
Outro
Cool. Cool, cool, cool. Ganz schön dickes Ding. Beim nächsten Mal sicherlich wieder mit Stutenbiss. Hey. 100 verdammte WEEKLY PLANETS. Ab jetzt geht es etwas langsamer. Aber das ist okay. Einfach machen. Unsichtbar sein hat seine Vorteile, das machen was Spaß macht, was in den eigenen Augen gut ist und was immer mal wieder herausfordert, das ist eine gute Sache.
Ich bin dankbar fürs Lesen. Gehabt euch wohl, genießt die Woche, lasst euch nicht ärgern und denkt daran, dass ihr nicht alleine seid. Bis bald.