Es ist unfair, William Gibson auf Cyberpunk zu reduzieren. Der Mann hat auch nach Neuromancer noch fantastische Bücher geschrieben, die langsam aber sicher immer näher an das Jetzt herangerutscht sind. Oder vielleicht war es anders herum. Inzwischen spielen sie übermorgen, oder vielleicht heute, nur in einer anderen Zeitlinie. Mit The Peripheral hat er sich diese Zeitlinien aufgemacht. Sie können über einen Server besucht werden und bei Bedarf kann eine Person aus der einen Zeitlinie in einer anderen agieren, sie braucht dafür nur ein ferngesteuertes Gerät. Das kann eine Drohne sein oder ein künstlicher Körper. Nun ist Gibson mit Agency wieder da und besucht einmal mehr das Universum, in dem von einer Zeitlinie andere beeinflusst werden.
Nach eigenen Aussagen hat Gibson das Buch mehrmals neu angefangen. Die politische Wende in den USA 2016 war ein Faktor dafür. Das scheint auch der Grund zu sein, warum in der Zeitlinie, welche die größte Rolle im neuen Buch spielt „Sie“ Präsidentin geworden ist und nicht „Er“. Gleichmeraßen suggeriert Gibson stark, dass der „Jackpot“, ein weltumfassendes, katastrophales Ereignis, welches eine Oligarchie und starke gesellschaftliche, politische und ökologische Wandlungen mit sich brachte, in der Zeitlinie von „ihm“ passiert ist. Die „Jackpot“ Welt begleitet die andere ein weiteres Mal. Charaktere aus The Peripheral kehren zurück, um sich erneut in den Verlauf einer anderen Zeitlinie einzumischen und sie in eine vermeidlich „gute“ Richtung zu schieben.
In der Welt in der „Sie“ Präsidentin wurde, verdient Verity ihr Geld damit Apps zu testen und danach dementsprechende Tipps zu geben. Ihr neuester Job dreht sich um eine VR Brille und eine künstliche Intelligenz namens Eunice, die zu deutlich mehr fähig ist als zuerst angenommen. Es folgen eine Menge Drohnen, Verfolgungsjagden, Kaffe, Sandwiches, Container in denen es sich Leben lässt und vielleicht der dritte Weltkrieg. Verity schlägt sich in all dem ganz gut, wenn man bedenkt, dass sie nach relativ kurzer Zeit mit anderen Realitäten/Zeitlinien konfrontiert wird und so gut wie nie entscheidet, was als nächstes passiert.
Verity wird essentiell von hier nach da kutschiert und erlaubt es Gibson so seine ziemlich nahe Zukunft darzustellen. Die Gig-Economy blüht. Wer hacken kann, hat Geld und im nahen Osten drohen Konflikte. Ich muss zugeben, dass mich diese doch wenig radikale Zukunft kaum beeindruckt hat. Ja, Gibson beschreibt sehr coole Sachen. Die Drohnen und der Umgang mit VR sind toll. Aber wo Autoren wie Cory Doctorow austeilen, wenn sie Umstände beschreiben, fehlt mir hier eine Beurteilung oder Bewertung. Es fällt mir schwer, die andere Welt als so viel besser zu sehen, wenn sich an grundlegenden Dingen, wie der Verteilung von Geld oder der Gig-Economy nichts geändert hat. Und ja, das ist allemal besser als Kinder in Käfigen oder der tatsächliche dritte Weltkrieg. Aber ich habe für mich gemerkt, dass ich mehr erwarte, als nur eine okaye und einfach anders beschissene Zukunft. Oder wenigstens eine Anerkennung davon, dass diese Form der Gesellschaft auch beschissen ist.
Das Buch heißt „Agency“. Agency steht unter anderem für eine „Handlungsmacht“ und lädt damit ein auf die künstliche Intelligenz im Buch zu schauen, die sich selbstständig macht und größtenteils unsichtbar ihre Fäden zieht. Es lässt sich außerdem auf diesen gesamten Strang anwenden, in den sich die Menschen aus der vom Jackpot ruinierten Welt einmischen. Verity ist wohl die Person mit der wenigsten Kraft über ihre Handlungen und ihren Weg. Eunice nimmt sich die „Handlungsmacht“ irgendwann einfach.
Agency ist um Himmels Willen kein schlechtes Buch. Es unterhält ganz ausgezeichnet und ist in seiner nähe zur heutigen Zeit beeindruckend. Die Technik ist cool, die Szenen gut gesetzt und Gibson weiß wirklich über die Verbindung von Technik und Alltag zu schreiben und sie natürlich aussehen zu lassen. Es braucht ein wenig um reinzukommen und wer sich nicht mehr an The Peripheral erinnert, sollte noch einmal nachlesen. Es ist mein persönliches Interesse an radikaleren Ideen oder tatsächlicher Kritik am System, das mich eher unbeeindruckt zurücklässt. Ich habe mir mehr scharfe Kanten gewünscht. Aber die muss ich mir wohl woanders holen.
Ich habe ein Leseexemplar von Agency gelesen. Das Buch ist inzwischen erhältlich und der Buchladen eurer Wahl hat es höchst wahrscheinlich im Angebot. Entweder bei Belletristik oder SFF, je nach Buchladen.